Die Ahnen - Gustav Freytag
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»Schwingen auch sie heut das gedörrte Gras?« fragte der Fremde.
»Einen wenigstens magst du sehen«, versetzte der Kellermeister Heriger leise und wies nach der Höhe. In dem Schalloch des Glockenturmes saß ein Jüngling und starrte hinaus auf die Höhen im Osten, ohne die Mönche im Hofe zu beachten. »Es ist Immo, der Thüring, er hängt oft dort oben, und immer sieht er nach derselben Himmelsseite, weil dort seine Heimat liegt!«
Reinhard maß den Jüngling mit einem schnellen Blick: »Erkenne ich ihn recht auf seinem luftigen Sitze, so sieht er mehr einem jungen Kriegsmann ähnlich, als einem Schüler, der auf das heilige Öl und die Stola hofft.«
»Du wirst ihn wild und tückisch finden«, versetzte Tutilo. »In den ersten Jahren hat ihn unser Herr Bernheri verzogen, jetzt tun ihm Hunger und Geißel not, und du würdest ihn vielleicht im Keller auf dem Stroh erblicken, statt dort in hoher Luft, wenn die Brüder nicht allzuoft an das Verdienst seines Ahnherrn dächten.«
»Denn wisse, mein Bruder,« fuhr Heriger fort, »er ist aus dem Geschlechte eines seligen Helden, der, wie sie sagen, zugleich mit dem heiligen Bonifazius von den Heiden erschlagen wurde. Sein Ahnherr war es, zu dem der Heilige in der Todesnot seine letzten Worte sprach, welche in den Büchern geschrieben stehen: Wirf dein Schwert von dir! Und darum haben auch von je die Männer und Frauen seines Geschlechtes unser Kloster mit Hufen und Gaben ausgestattet.«
Gegenüber dem Schülerhause lag der Kirche angebaut die Bibliothek und die Stube der Schreiber. Der Fremde betrat ein kahles Gemach; die beiden Fenster waren durch Glas und Blei verschlossen, aber große Spinnengewebe hingen an Wand und Rahmen, und durch die Scheiben drang nur ein trübes Zwielicht, so daß eine brennende Lampe das Beste tun mußte, um den Raum zu erhellen. Vor der Lampe saß am Pult ein schreibender Mönch. Langsam erhob er sich, als die Brüder eintraten, und noch während er den Ankömmling begrüßte, waren die kleinen Augen in seinem runzligen Gesicht auf die Pergamentblätter gerichtet.
»Willst du deinen Augen Pönitenz antun, Vater Gozbert,« begann Tutilo verwundert, »daß du das Sonnenlicht aussperrst?«
»Es muß ein dunkler Nebel in der Welt sein,« versetzte der Mönch, »denn es will nicht hell werden.«
»Nicht der Nebel ist es, der dir das Licht raubt, sondern die Bosheit anderer,« rief Tutilo, das Fenster öffnend, »sieh her, die Scheiben sind von außen durch trübe Farbe verdunkelt, und merke, jemand hat dir einen üblen Streich gespielt.«
»In Wahrheit, draußen scheint die Sonne,« sagte der Mönch, »ich erkenne Lehm und Kienruß an den Scheiben.«
»Ich aber weiß, wer die Ungebühr gegen dich geübt hat, entweder selbst oder durch die Jungen,« sagte Tutilo, »denn der Scholastikus Immo leitet die Knaben zu vielem Frevel an. Doch sein Maß ist voll.« Und auf Reinhard blickend, fuhr er fort: »Vater Gozbert ist ein Künstler in der Schrift, wenige verstehen sich besser auf jede Art von Duktus.«
Gozbert ging zu einem Bücherbrett, schlug einen Kodex auf und zeigte mit Selbstgefühl die Blätter, auf welche Buchstaben mit bunten Farben gemalt waren.
»Ich sah selten so leuchtendes Gold so wohl geglättet«, lobte der Fremde.
»Durch den Stein Achates«, erklärte Gozbert und blätterte zum Anfange zurück, dort war als großes Bild ein Kaiser auf seinem Stuhl und zur Seite vier Frauen, tief gebeugt, mit seltsamen Kronen auf dem Haupt, jede eine Mulde in den Armen, worin etwas Undeutliches lag, darüber standen die Namen von vier Ländern, welche zum Reich gehörten. »Ich selbst habe den Weibern die Verneigung erdacht,« sagte Gozbert stolz, »denn in der alten Handschrift, die wohl noch aus der Urzeit der Römer stammt, standen sie gerade.«
»Niemand merkt, daß es das Gesäß des Vaters Sintram ist, welches Gozbert viermal gebildet hat,« erklärte Heriger mit lustigem Augenzwinkern, »denn Sintram mußte oft gekrümmt stehen, mit den Händen am Türpfosten, während Gozbert zeichnete.« Der Schreiber warf einen mißbilligenden Blick auf den Sprecher und zeigte mit dem Finger auf das rötliche Gesicht des Kaisers. »Herr Otto, der Rote, seligen Andenkens.«
»Ich aber will unseren Vater rühmen,« fuhr Heriger fort, »denn schwerlich wird man einen Schreiber unter den Lebenden finden, welcher mehr geschrieben hat; vierzig Jahre lang schreibt er bei uns jeden Tag im Sommer und Winter; fünfzig Bücher bewahrt das Kloster von seiner Hand, und nicht wenige sind zum Tausch gegeben gegen andere.«
Gozbert neigte bescheiden den Kopf während des Lobes, aber seine kleinen Augen glänzten. »Wenn es mir nur nicht an Pergament gefehlt hätte«, sagte er, »und an Büchern zum Abschreiben.«
»Vielleicht wird es möglich, daß du von dem Kloster, aus dem ich komme, ein gutes Buch geliehen erhältst«, tröstete Reinhard.
»Was es auch sei,« versetzte Gozbert erfreut, »ich schreibe es gern, wenn du oder ein anderer Gelehrter mir sagt, daß keine Sünde darin steht. Denn die heiligen Namen zeichne ich mit Rot aus, und die Übles bedeutenden Namen in den profanen Büchern habe ich immer weggelassen, sooft ich ihre Tücke merkte. Manche Nacht habe ich in Ängsten gewacht, und oft hat mir beim Schreiben geschaudert, ob ich nicht vielleicht etwas schreibe, was dem Heil meiner Seele schaden könnte. Endlich bin ich gewarnt worden, daß ich die sündigen Bücher meide.« Er schlug das Kreuz und wandte sich geheimnisvoll zu dem neuen Mönche, während die anderen, welche die Lieblingsgeschichte des Alten wohl kannten, einander bedeutsam ansahen. »Merke auf jenen Holzkrug, mein Bruder,« fuhr Gozbert fort, »in welchem ich mein Trinkwasser bewahre. Ein Deckelkrug, diesem gleich, stand an derselben Stelle, als ich gerade einiges von dem Heiden Ovidius schrieb. Da hörte ich hinter mir den Deckel klappen, ich wandte mich um, und mein Haar sträubte sich, der Krug stand still, aber zuweilen hob sich der Deckel und schlug wieder abwärts, wie von innerer Gewalt getrieben. Ich rief die Heiligen zu Hilfe, plötzlich sah ich zwei Hörner aus dem Krug ragen und wieder verschwinden. Im Entsetzen stieß ich den Krug um, und sogleich sprang der teuflische Geist, einem kleinen Tier mit Hörnern ähnlich, aus dem Holz, fuhr in dem Zimmer umher und endlich durch den Türritz hinaus, indem er bösen Nebel und Gestank zurückließ. Ich aber erkannte die Warnung.«
»Hätte der böse Geist nicht den Dampf zurückgelassen,« bemerkte Heriger, »so würden manche vermuten, daß es ein junger Hase gewesen sei, den der Thüring Immo heimlich in den Krug unseres Vaters gesetzt hatte.«
»Es war der Teufel«, versetzte Gozbert unwillig. »Seitdem schreibe ich nur heilige Bücher.«
»Du hast sicher das beste Teil erwählt, mein Vater«, tröstete Reinhard grüßend, und sie schieden aus der Zelle. Der Schreiber aber setzte sich wieder zu seinem Pult; oben webte die Spinne, und unter ihr schrieb der Mönch.
Tutilo wurde gesprächiger, als sie die Höfe betraten, in denen die Arbeiter des Klosters unter Aufsicht der Mönche für Handwerk und Landbau tätig waren. »Du siehst, Bruder,« begann er, das Haupt erhebend, »nicht gering ist das Haus des heiligen Wigbert, sein Segen hat die Keller und Scheuern gefüllt, wie gierig auch die Grafen und Dienstmannen ihre Fäuste nach Äckern und Herden ausstrecken. Und jetzt, da ich dir die Türen geöffnet habe und deinen Herdsitz gewiesen, jetzt berichte auch du, wenn dir gefällt, was du außerhalb des Klosters erfahren hast, denn wildes Gerücht geht durch die Lande, daß die Kinder der Welt in neuem Zwist gegeneinander toben.«
»Zürne nicht, mein Vater, wenn ich deinem Willen nicht auf der Stelle genüge,« versetzte Reinhard demütig, »du selbst weißt ja am besten, daß der Mund des Bruders, der aus der Ferne kommt, verschlossen sein muß, bis die Erlaubnis des Herrn Abtes ihn öffnet.«
Der helle Zorn flammte aus Tutilos Augen. »Statt des Abtes stehe ich hier, und mein ist das Recht, dir die Zunge zu lösen.«
Reinhard warf sich schnell vor ihm auf den Boden und flehte, die Hände erhebend: »Verzeih, mein Vater, daß ich dir Unmut erregte, da ich dir Gehorsam schuldig bin im Staube; nur was die heilige Regel mir gebietet, meinte ich zu tun. Selbst wünsche ich, daß du alles wissest, denn schwere Kunde bringe ich aus dem Lande, aber auch dir würde es gefallen, wenn du der Abt wärest, daß ich eher dir als anderen die Botschaft verkündete.«
Tutilo blickte finster auf seine Begleiter, aber er sah an den verlegenen Mienen, daß sie das Recht des Flehenden erkannten, darum schwieg er und ließ den Mönch zu seinen Füßen liegen, bis Heriger, der Kellermeister, begann: »Da der Bruder sich nach Gebühr demütigt, so rate ich, daß du selbst ihn nach St. Peter zu unserem Herrn Abt begleitest, damit auch wir erfahren, was dem Kloster zum Heil oder Unheil werden mag; vor allem aber, daß du es wissest, da du jeden Tag um unser Wohl zu sorgen hast.«
Tutilo wandte sich unfreundlich nach dem Sprecher, aber er bezwang sich und antwortete dem Liegenden mit einer Stimme, der man den Ärger wohl anmerkte. »Ungern wandle ich aus der Pforte nach jener Höhe, doch will ich dein Gewissen, mein Bruder, nicht beschweren. Erhebe dich und harre mein an dem Tore. Du aber, Walto, gebiete, mein Roß zu satteln, damit ich die Befehle unseres Herrn auf der Höhe erbitte.« Er wandte sich ab und hörte nicht darauf, wie der Kniende sich dem Gebet der Brüder empfahl. Reinhard erhob sich hinter dem Rücken des Präpositus und schritt mit gesenktem Haupt neben dem Pförtner dem Ausgange des Klosters zu. Tutilo aber entließ die Brüder, welche ihn begleitet hatten, und sprach zu seinem Vertrauten Hunico: »Übles weissagt die fremde Biene in unserem Stock. Der Narr ist von der neuen Zucht, welche die Füße küßt und Faustschläge in den Nacken gibt, er wird die Becher der Brüder zählen und um einen gekochten Kalbskopf die Geißel schwingen. Wer so willig ist, sich in den Staub zu werfen, der wird auch dem König und dem Graf nicht widerstehen, wenn sie uns die Zehnten und Hufen nehmen und das Heiligtum kahl machen, wie es zur Zeit des Lullus war, wo die Brüder sich selbst an den Pflug spannten und ihr gutes Glück priesen, wenn ihnen ihr tägliches Pfund Brot ohne Abzug gereicht wurde. Ich aber meine nicht umsonst die Speicher gefüllt zu haben, kommt es zum Kriege, so suchen auch wir einen neuen Abt, welcher das Kloster erhöht und nicht erniedrigt; denn es leben wenige Fürsten im Reiche, die so stark sind, als wir sein könnten, wenn ein Mann auf dem Abtstuhl säße und nicht ein Schwächling.« Er schritt gewaltig in die Klausur, sich zu der unwillkommenen Fahrt zu rüsten.
Während die ansehnlichen Führer der Brüderschaft durch die Höfe wanderten, schlich der junge Mönch, welcher den fremden Bruder geleitet hatte, unbeachtet in die Kirche zurück, neigte sich vor den Altären, glitt die Säulen entlang und öffnete im Vorhofe den Eingang einer hölzernen Galerie, welche aus der Kirche zu dem Glockenturm des Erzengels Michael führte. Er stieg die Wendeltreppe hinauf bis zu dem Bodenraum unter den Glocken. Dort stand der Altar des hohen Engels, der im Federhemd in den Lüften waltete und den Wetterschlag vom Glockenturm abhielt. Indem der Mönch sein Gebet murmelte, rief von oben eine helle Stimme: »Rigbert, sei willkommen.« Der Mönch hob warnend den Finger, kletterte die steile Stiege hinauf, welche zu dem Glockenstuhl führte, und stand wenige Schritte von dem Jüngling Immo. Dieser saß in dem Schalloch auf schmalem Brett, das für eine Dohle bequemer war als für einen hochgewachsenen Mann, und beobachtete ungeduldig das Nahen des Mönches.
»Du kommst aus Thüringen, seit Mittag erwarte ich dich; der Dienstmann Hugbald ritt an euch vorüber und brachte die Kunde in das Wächterhaus. Du sahest die Quellen der Waldbäche springen, du hörtest, wie der Bergwind weht und wie das junge Volk der Thüringe unsere Reigen auf dem Anger singt. Was weißt du mir zu sagen aus den Waldlauben?«
»Noch rinnen die Quellen vom Rennstieg zu Tale, und die Waldaxt klingt an den Baumstämmen. Aus Erfurt, dem großen Markte, ritt mein Reiseherr Reinhard nach der Zelle unserer Brüder in Ordorf, auf dem Wege rasteten wir in einem Edelhofe.«
Eine heiße Röte fuhr dem Schüler über das Gesicht, und mit heller Stimme rief er, die Hand gen Osten hebend: »Ich meine, das war der Hof meiner Väter.«
»Wir wurden wohl empfangen von der edlen Hausfrau.«
»Das war meine Mutter«, schrie der wilde Knabe und wandte sein Antlitz von dem Mönche ab, weil ihm Tränen über die Wangen liefen. »Sprich mir von ihr«, fuhr er nach einer Weile fort und kehrte sich wieder dem Mönch zu.
»Sie erschien mir als eine heilige Frau, und einer Fürstin sah sie gleich, obgleich sie schmucklos in Witwentracht vor uns stand.«
»Mein Vater starb an seiner Wunde im fernen Land, und der Sohn vermochte ihn nicht zu rächen. In den Kerker bin ich gesteckt. Unselig ist die Hand, die das Rauchfaß schwingt statt des Eisens.«
»Mehr hilft deiner Seligkeit der Rauch am Altar als die wilden Worte«, mahnte der Mönch.
»Du freilich trägst geduldig die braune Schafwolle, die sie dir gesponnen haben.«
»Mich hat meine Mutter, da ich ein Kindlein war, dem Heiligen auf den Altar gelegt, weil sie das Liebste dem Himmel weihen wollte, und meine Heimat ist seitdem im Gotteshause.«
»Auch mich haben sie, da ich noch ein Knabe war, zum Dienst des Altars bestimmt, obgleich ich das erstgeborene Kind war und ein Recht hatte, das Banner meines Vaters zu führen. Aber dem Vater wurde der Vorsatz leid, denn du weißt ja wohl, meine Fäuste sind nicht gemacht, Feder und Gebetbuch zu halten, sondern Schildrand und Rosseszügel. Zu einem Kriegsmann wurde ich erzogen, obgleich der Mutter Böses ahnte, bis mein Vater mit dem jungen Kaiser Otto nach Italien zog und in die Gefangenschaft der treulosen Griechen geriet. Da kam die Angst in unseren Hof, schöne Hufen mußte die Mutter dem Kloster verkaufen, um das Lösegeld für den Vater zu finden, und nicht die Hufen allein, auch den Sohn rieten die frommen Väter zu spenden, damit die erzürnten Heiligen sich des Vaters wieder erbarmten. Ich trug damals mein erstes Panzerhemd, jetzt trage ich dies mißfarbige Kleid eines dienenden Schülers und fahre in dieser großen Mausefalle wie eine gefangene Ratte längs den Brettern dahin. Den Vater haben die Heiligen doch nicht heimgeleitet, ich aber bin gefesselt.«
»Wie mochten sie ein Opfer gnädig empfangen,« antwortete der Mönch traurig, »das so unwillig sich gegen den Altar sträubte.«
»Zu Rosse wäre ich für sie geritten bis an das Ende der Welt, aber auf den Knien gleiten über den glatten Stein, das kann ich nicht. Denn meine Ahnen dachten hoch, und ich stamme aus einem Geschlecht von Kriegern.«
»Und doch sollte deine Dienstbarkeit mild sein, du Begehrlicher, der immer an die Freuden der Welt denkt. Nicht Mönch solltest du werden, sondern ein üppiger Kanonikus, der seidenes Gewand trägt, hoch zu Rosse sitzt und mit den Frauen kost wie ein anderer.«
»Warum trage ich nicht das weiße Gewand?« fragte Immo zornig, »andere, die noch jünger sind in der Klosterschule, werden dadurch doch ein wenig getröstet. Doch ich weiß wohl, teuer ist solche Gunst, und niemand von den Meinen zahlt einem Bischof den Preis für die weiße Leinwand. Aber hätte ich auch, was du für mich ersehnst, du weißt, die Fledermaus ist ein unholdes Tier, sie ist nicht Maus, nicht Vogel; und ich bin von dem Geschlecht, welches bei Sonnenschein sich über die Flur schwingt. Was sahst du noch, Rigbert, in unserer Halle?«